Theanthropos - Holanthropos !
Der Gottmensch - der Ganze Mensch !

 

Gott, heißt es, habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Als der Mensch nun, Fleisch geworden, sündigt, da murmelt Gott in seinen Bart: "Siehe, Adam ist worden als unser einer...." (1 Gen. 3,22). Und Gott inkarniert sich in einem Menschen, dem Gottmenschen oder Theanthropos, Christus genannt bzw. "(zum Opfer) Gesalbter", um sich selbst zu reinigen von den Sünden des Fleisches. Also geht er ans Kreuz, kasteit sich und sucht so, seine Schöpfung zu reinigen. Anders gesagt: der Mensch, der stolze, der sich als Gott imaginiert, geißelt sein Fleisch, seine Sinnlichkeit, seine abhängig machende Bedürftigkeit.

Nein, nein, wird es heißen, völlig missverstanden, der Gott ist nicht seine Schöpfung, er nicht die Welt und schon garnicht die Sünde! Aber heißt es nicht, jener sei ewig, allgegenwärtig und allmächtig? Also muss auch die Welt und ihr Werden in ihm, ein Teil von ihm und in seiner Verantwortung liegen - denn es gibt nichts, was außer ihm liegt. Samt dem Teufel. Vertracktere Theologie! Aber in anderen Religionen(1) wusste man schon längst, ein gutes Stück weit aufrichtiger, dass die Götter sich selbst zum Opfer bringen müssen, um damit erst göttlich und werden und zu bleiben. Denn das Wesen des Göttlichen soll sein, dass es rein ist und das Sündige aus sich getilgt hat...

Das sündige "Fleisch" (Sarx) muss also abgetötet werden und in einer purifizierten Welt nach dem großen reinigenden Weltenbrande kann nur der "geistliche Leib" (Soma) auferstehen. "Die aber Christus angehören, kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden" (Gal 5,24). Denn es können "Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben" (1 Kor 15,50). "Es wird gesäet ein natürlicher Leib, und wird auferstehen ein geistlicher Leib." (1 Kor 15,44).

Einen Teil also der Welt, einen Teil seiner Schöpfung, das "sündige Fleisch" und die in ihm wohnende Begierde bzw. Bedürftigkeit, schneidet der Gott als Gottmensch von sich ab, damit nur "das Göttliche" übrig bleibe - tiefster Sinn aller Opferrituale. Und jenes Göttliche war bisher nur das Geistige, jenes Abgelöste oder "Absolute", das in seiner souveränen Alleinzigkeit unbedürftig war, also von nichts außer ihm abhing. Eine Allmachtsphantasie, deren Abglanz den Gläubigen erlösen und erleuchten sollte, eine verzweifelte Selbstverleugnung, bei der die Geschichte vom Gott da draußen und da droben bei der Verschleierung des Bewusstseins, bei der schizoiden Spaltung des Selbst in das gebannte Schwache und das ermächtigte Erlösungsego Hilfestellung leistet.

Wer nun das Göttliche nicht in gewaltsamer, illusionärer Abspaltung und Verdrängung, sondern in koexistenzbereiter, aufrichtiger und bewußter Integration und Entfaltung der Fülle der Möglichkeiten sieht, muss sagen: fataler Irrtum, den Geist Fleisch werden zu lassen, nur um dieses wieder am Opfergalgen und auf Blutaltären von jenem abzutrennen. Wer nicht Visionen von gewalttätiger Macht, von gereinigten Reichen huldigt, sondern Friedfertigkeit und dialogisches Anerkennen des als das "teuflisch Andere" Vorworfenen für eine einsichtsvollere, produktivere Einstellung hält, der muss sagen: Schluss mit der "fleisch"-feindlichen Tradition, in der nur Geist und Wort zählen, in der nur Köpfe als das Herzeigenswerte gelten und der Körper zumeist verborgen wird, in der alles Lustvolle, Orgiastische als "Abschaum", "teuflisch" und "unanständig" gewertet wird. Schluss mit einer falsch gewordenen Opposition von Geist und Fleisch, in der kulturelle und intellektuelle Weihen unvereinbar sind mit einer offenen Huldigung an den Körper und seine "satanische" Lust. Der muss sagen: lasst uns stark genug sein, auch mit der Schwäche zu leben, die durch Begehrlichkeit entsteht - macht sie uns doch abhängig, von den ersehnten Gegenständen unserer Bedürftigkeit, von den Lustobjekten dieser Welt. Lasst uns ein Göttliches denken, das nicht durch Ausblendung und Abschneidung sich adelt, sondern durch höheres Bewusstsein und heilsame Ganzheit. Lasst uns denken, dass das Göttliche in der Welt sich entfaltet, in ihm erblüht, nicht dass die Welt abgeschnitten werden muss, damit der Geist zu sich kommt.

Lasst uns Stätten der Kultur errichten, in denen die beiden Pole einer ganzheitlichen Menschlichkeit gepflegt werden: Geist, Sprache, begriffliches Denken, Bewußtheitsfülle und Körper, Fühlen, Wahrnehmen und Versinken in der mitreißenden Fülle des Erlebens - ja auch das notwendige Ende bewussten Seins als abgegrenztes Ich samt seiner - hoffentlich - lebendigen Interaktion mit der Welt der Objekte. Lasst uns Kultorte bauen, die nicht Tempel der Ausgrenzung(2) sind, sondern Einfallstore und Basare für das Leben der Welt, in denen sowohl die Wissenschaft gepflegt wird, als auch die Kunst und der Körper. Lasst uns den Himmel, Welt und Hölle, Gott, Mensch und Satan, Geist, Seele und Körper integrieren!

Und hierzu genügt es, bescheiden in die Vergangenheit zurückzuschauen, beispielsweise in jene Zeiten vor der Machtergreifung jüdisch-christlich-asketischen Geistes, um wieder heraufzuholen und mit modernen Errungenschaften zusammenzuführen, was verschüttet wurde.

Die chalkolithischen(3) und bronzezeitlichen Mesopotamier feierten als zentrales Mysterium nicht die Kreuzigung eines Gottmenschen, sondern die rührend zu Herzen gehende, liebe- und lustvolle Vereinigung der Pole der Welt, verkörpert in Weib und Mann, Königin und König, Oberpriesterin und Oberpriester, Göttin und Gott(4) (s. Text und Bilder im Anhang). Die Heilige Hochzeit war das Zentralgeschehen, das fruchtbar die Welt erhalten sollte. Damals konnte Prostitution noch heilig sein, weil das Göttliche nicht als eine von der "bösen Frau Welt" gereinigte, absolute, jenseitige Macht gedacht wurde, sondern also die Fülle der Fruchtbarkeit diesseitiger Welt, die nur im stets schwierigen Zusammenkommen des Begehrens mit dem Gegen-Stand des Begehrens, in der zyklischen, stets neuen, produktiven Vereinigung der Gegensätze sich entwickeln kann - ganz im Gegensatz zu der Vorstellung von der endgültigen Reinigung durch den so simplen ultimativen Gewaltakt. Mit der Welt zusammenzutreffen, mit ihr sich zu vereinigen und ihrer Fruchtbarkeit zu opfern - und das heißt hier v.a. hinzugeben und nicht abzuschneiden(5) - war das heil-schaffende Höchste, der Hieros Gamos also, statt des blutigen, kannibalischen Opfermahles, welches wir Eucharistie(6) nennen...

Die Römer hatten die - im Sinne ganzheitlicher Menschlichkeit - großartigste kulturelle Einrichtung aller bisherigen Zeiten geschaffen, die Thermen, in denen es ebensosehr der Philosophie, wie der Kunst (Baukunst, Skulpturen, Mosaike, Wandmalereien, Musik, Tanz, Schauspiel...), der Politik, der Gesundheit, der physischen Ertüchigung, dem körperlichen Wohlbefinden als auch der Lust des Fleisches galt. Wir leben in Spaltung: der "reine Geist" haust in den Kirchen, der weltliche Geist in Universitäten, Parlamenten und Fabriken, das "künstlerische" Seelenleben in Konzertsälen und Museen, der Körper in Wettkampfstätten und Badeanstalten, und die Lust - relegiert - in Bordellen. Nie wäre denkbar, dass etwa unser Präsident mit seiner Entourage öffentlich und nackt in einer Lokalität aufträte, die ihre Funktion als Treffpunkt für Lüsterne - um nicht zu sagen Bordell oder Swinger-Club - z.T. sogar offen 'plakatiert' (s. Bilder im Anhang) - was dem römischen Kaiser kein Problem schien, vielmehr Teil der Propaganda des Kaiserhauses war.... Vielleicht müssen wir jenes "dekadente" Rom als Stätte einer Kultur sehen lernen, die raffinierter und reifer war, als die der christlichen Barbaren, welche solcher Blüte ein Ende setzten...

Reizvoll - aber auch problematisch - ist es, sich für eine holistische Kultur Inspirationen bei den buddhistischen Tibetern zu holen. Dort findet man die kühne Vorstellung, ja auch "asketische" Praxis, dass in höchste Meditation auch voll und ganz Sinnlichkeit und Körperlichkeit, und das heißt auch: sexuelle Lust einbezogen werden müsse. So schildert der Asket Milarepa den Zustand der in der Meditation erlangten Erleuchtung, Bodhi (nach der Technik der Naro Chödrug, der "Sechs Doktrinen des Naropa"), wie folgt:

 

"Flammt die 'innere Hitze' auf im ganzen Körper - Wonne!

Zentrieren sich die Energieströme in den drei Bahnen - Wonne!

Fließt von oben des Erleuchtungsgeistes Strom - Wonne!

Erfüllt sich von unten das Energiepotential, das Strahlende - Wonne!

Harmonisieren in der Mitte Männliches und Weibliches - Wonne!

Ist voll von ungetrübter Seligkeit der Körper - Wonne!"(7)

 

Entsprechend finden wir in der tibetischen Kunst Meditierende oft als "Yab-Yum", d.h. wörtlich: als "Vater und Mutter" dargestellt (s. Bild im Anhang): der Mann sitzt im Schneidersitz, die Frau auf seinem Schoß, ihm zugewandt, in sexueller Durchdringung und Vereinigung. Oft zeigt er dabei die Kárana-Mudra, die Geste der Faszination(8). Hier wird die Einheit des "männlichen Prinzips" der Upáya, d.h. der kultischen Methode, und des "weiblichen Prinzips", der Prajna(9), d.h. bewußten Weisheit zelebriert, welche sich häufig auch dargestellt findet in Form der Symbole der vaginal-uteralen Glocke, Drilbu, und des phallischen Dorje, d.h. des Blitzstrahls bzw. Donnerkeils, der auch als Diamant, als Vajra(10) verstanden wird, woher die Bezeichnung Vajrayana für die entsprechende Schule des Buddhismus(11).

Und damit sind wir schon bei der Problematik dieser anregenden Meditationspraxis: es geht im Endeffekt nicht etwa, wie mensch im Zeitalter des "New Age" allzu oft meint, um die Einbeziehung, die Integration des Körperlich-Sinnlichen, sondern vielmehr um deren ultimative Kontrolle und Überwindung, denn die Praktik wäre nicht mehr buddhistisch, wenn plötzlich die Grunddoktrin des Shakyamuni in Vergessenheit geriete, dass nämlich Leben Leiden ist, Leben aber das Geborenwerden im Kreislauf der Geburten (Samsára) und dass es gilt, dies Leiden hinter sich zu lassen, indem mensch alle Körperlichkeit, alle Sinnlichkeit, alle Weltlichkeit unter sich lässt, sich davon erlöst und in die - vermeintlich - höchste Seligkeit des Nirwana, die völlige Leere (Shúnyata) eingeht. Was aber das Anhaften an weltlichen Dingen und das "Ergreifen eines Mutterschoßes" (Upadana), also das leidbringende Geborenwerden im Samsara hervorruft, ist sinnliche Begierde (Trishna). "Das Überwinden und Aufgeben von Trishna ist durch die Bewachung der Sinnesorgane, wodurch bei einer Berührung mit Sinnesobjekten keinerlei Leidenschaft und Begehren mehr aufkommt, möglich und führt zum Ende des Leidens."(12) Einer, der so meditiert, ein Tantriker, stellt also "den Sinnengenuss in den Dienst der Befreiung"(13) - und das heißt, um klar zu sein, der Befreiung vom Sinnengenuss. Tantriker üben also eine noch viel strengere Disziplin als Asketen oder "Übende" der Enthaltsamkeit: sie setzen sich der größten Verführung frontal aus, um gleichsam den Stier bei den Hörnern zu packen und ihn so zu besiegen, statt feige ihm auszuweichen...

Das nun wird im Symbol des Dorje bzw. des Vajra, des diamantenen Blitz- und Donnerkeils gezeigt: der Vajra ist ursprünglich die Waffe des vedischen Gottes Indra, sein "Spalter" und "Zerstörer"(14). Was dort aber noch ein Diskus aus den Knochen eines Weisen war, wird im Vajrayana-Buddhismus zum klaren, d.h. von der Welt gereinigten, scharf schneidenden Diamant. Entsprechend kann von einem maßgeblichen Lehrwerk, der Vajrachchedika-Prajnaparamita-Sutra, wörtlich "Sutra(15) vom Diamantschneider der Höchsten Weisheit", gesagt werden: "Das Werk heißt Diamant-Sutra, weil es 'scharf wie ein Diamant ist, welcher alle willkürlichen Begriffe (d.h. Illusionen von der Wirklichkeit der sinnlichen Welt) wegschneiden und einen zum anderen Ufer der (einzig wahren und wirklichen) Erleuchtung bringen wird.'"(16) Passend heißt denn auch eine andere tibetanisch-buddhistische Meditationspraxis, Chöd, in der der Asket seinen Körper hilfreichen Dämonen auf einem Leichenfeld zum Opfer, konkret zum Zerreißen, zum Fraß und damit zur symbolischen Vertilgung vorwirft, "wörtlich: 'abschneiden, durchtrennen'"(17).

Es wundert denn nicht, dass in Yab-Yum-Darstellungen auch der Phurbu auftaucht (s. Bild im Anhang), "wörtlich: Nagel, Keil"(18), ein "Dolch zur Bezähmung von Dämonen", der sich zusammensetzt aus "einer Dreikantklinge und einem nach dem Vorbild des Dorje (bzw. Vajra) modellierten Griff". "In den Maskentänzen der Lamas(19) wird noch heute das mit dem Phurbu assoziierte Ritual nachvollzogen. Die 'Seele' eines in eine Puppe hineingebannten Dämons wird durch den in das Herz der Puppe gestoßenen Phurbu absorbiert, während die dämonischen Kräfte mit der Puppe selbst vernichtet werden. In der Vorstellungswelt des Vajrayana wird damit sogar der symbolische Akt des Tötens (bzw. Opferns) zu einer von Erbarmen [Karuna] motivierten Handlung, da der Dämon mit Hilfe des Phurbu zur (vermeintlichen) Befreiung [Nirvana] geführt wird."(20) Man findet auch andere Darstellungen derselben Idee, in denen ein Dämon mithilfe von Phurbus festgenagelt wird, der Kreuzigung des "Lammes Gottes" erstaunlich und dennoch psycho/logischerweise entsprechend(21). Wir haben es also mit dem Fortleben alter magisch funktionierender, ritueller Blut-Opferpraktiken in sublimierter, nur noch bildlich-symbolischer oder sogar rein autosuggestiv-imaginärer Form zu tun - also das Gegenteil einer Praxis der Versöhnung mit der geschundenen Natur, der Natur des eigenen Körpers, der eigenen Sinnlichkeit und der Natur da draußen...

Dennoch ist der Tantrismus eine wertvolle Inspirationsquelle, geht er doch auf die alte Tradition der hinduistischen Shaktas zurück (deren heilige Schriften die Tantras [wörtlich: "Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum"(22)] sind), welche vermutlich ihrerseits aus weit tieferen Wurzeln zehrt, nämlich aus der kultischen Verehrung der Großen Göttin, die bis in die frühe Steinzeit reicht. Zentrum des Glaubens der Shaktas ist die Shakti ("Macht"), d.i. "die (dialektische) weibliche Potenz oder Energie einer (männlichen) Gottheit, die diese (erst) zum Handeln befähigt"(23). Die Verehrung der Shakti konkretisiert sich im Kult um die Gemahlin des Shiva(24), der man sich als der großen, göttlichen Mutter hingibt und unterwirft. Es ist dies also ein Traditionsstrang, in dem noch präpatriarchalische Einstellungen aus Zeiten lebendig sind, in denen der Mensch - mehr gezwungen und leidvoll, als gewollt und glücklich - der mächtigen "Mutter Natur" wehrlos ausgeliefert war, ehe er aus patriarchalischem Geist und mit (phallischer) Technik sich wehrt und emanzipiert; eine Phase, deren Naturverehrung für uns heute, die wir jeden Respekt beseitigt und verloren haben, durchaus lehrreich sein kann - wenn auch unter anderem Vorzeichen, sind wir doch heutzutage in der Lage, das was uns früher 'über' war, gewaltsam zu be/herr/schen, ja sogar zu zerstören... Lassen wir uns also erregen vom Tantrismus, der sowohl den "Weg der rechten Hand" (Dakshinachara) kennt, in dem mensch mit "strenger spiritueller Disziplin" ein "läuterndes Ritual" praktiziert, welches "die absolute Hingabe an die Göttliche Mutter ... fordert", als auch den "gefahrvollen" "Weg der linken Hand" (Vamachara), "der sich ungezügelten Riten und sexuellen Ausschweifungen hingibt"(25). Hier wird den fünf großen "M's" gehuldigt: "1. Madya, Wein; 2. Mansa, Fleisch; 3. Matsya, Fisch; 4. Mudra, geröstetes Getreide und mystische Gesten; 5. Maithuna, Geschlechtsverkehr"(26). Allerdings: wir müssen eine völlige Umwertung der Werte des Tantrismus vornehmen und diesen vom 'spirituellen Kopfe' auf die 'sinnlichen Füße' stellen! Ob wir aber - nach Buddha und Christus(27) - es noch oder wieder schaffen können uns vorzustellen, dass an einer "Kulturstätte" höchste Geistigkeit, Bildung und Wissenschaftlichkeit scham/los und aufgeklärt mit tiefster Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Lust koexistieren können - und sollten?!

Werden wir lernen, dass - nachdem "Gott tot ist" - das Göttliche nicht mehr im Paradies der Christen oder Mohammedaner oder im Nirwana der Buddhisten zu sich kommt, sondern dass es sich in der Welt manifestiert und entfaltet und zwar in der ganzen Fülle der "Schöpfung", in der grandiosen Vielfalt der natürlichen Phänomene, in der Körperlichkeit und im Bewusstsein der Lebewesen, v.a. - jedenfalls hier auf diesem Planeten - im Bewusstsein des Menschen, wo die Welt nocheinmal im Abbild aufscheint. Wenn Göttlichkeit das Sichentfalten einer ungeheuren Potentialität in der nicht minder ungeheuren Vielfalt des endlosen Werdens realer Konkretion bedeutet, und dieses Sichzeigen nocheinmal im Bewusstsein geschieht, dann muss jede Bewußtseinsform, die die Grenzen des Individuellen überschreitet, also in die Dimension eines Gattungsbewußtseins in Zeit und Raum hineinwächst, von besonderer Bedeutung sein. Ein überindividuelles Bewusstsein kann aber nur eine Spezies entwickeln, die in der Lage ist, Bewußtseinsinhalte von Individuum zu Individuum möglichst gut mitzuteilen und diese auch möglichst gut über die Zeiten hinweg festzuhalten. Mit der Entwicklung der Sprache, der Erfindung der Schrift und der Kunst des Bildermachens sowie geeigneter Reproduktionsmedien hat der Mensch in der Natur Einzigartiges geschaffen. Nun, da er sich anschickt, in Gestalt des Internets ein globales, jederzeit und von überall aus verfügbares Menschheitsgedächtnis zu entwickeln, das vielleicht einmal jedem Einzelmenschen mit der Schnelligkeit eines Gedanken zur Verfügung stehen wird - und damit sogar zu einer Art überindividuellem Bewusstsein werden kann -, reproduziert sich die Welt nocheinmal in staunenswerter Mannigfaltigkeit. Möge jeder dazu beitragen, dass dieses Bild der Welt dieser auch - nach Menschenmaß - gerecht wird - gerecht in der Sache und gerecht an kreativem Bemühen.

Und möge dieses Medium dazu beitragen, dass der Mensch seinen Beitrag dazu leistet, dass Göttliches als Fülle sich verwirklicht - statt die Welt in achtloser, kurzsichtiger Selbstsucht zu verwüsten und Menschen geistig, seelisch und materiell zu verarmen. Möge das Internet durch die Beschleunigung und Differenzierung des Informationsflusses zur innigen, kybernetisch wirksamen Vernetzung des Menschen mit seiner Um- und Mitwelt beitragen. Möge es die Nachhaltigkeit seiner Kultur ermöglichen, den Bewusstseinshorizont der Spezies aufweiten sowie ein "göttliches Reich" schaffen helfen, welches das Kunststück zuwege bringt, "von dieser Welt" zu sein, und seinen Reich/tum nicht in der gewaltsamer Reinheit, sondern in der lebendigen Fülle bunten Lebens entdeckt.

Nicht, dass die Welt auch ohne den Menschen und als Wüste weiterexistieren würde, in der die Sandkristalle und die Sterne glitzern; nicht dass sie nicht sogar gleichgültig weiterbestünde, wenn denn nur tote und amorphe Gase im ewigen, dunklen Nichts dahintrieben; dennoch: eine Welt mit weniger Blüten ist eine Welt, in der das Göttliche weniger scheint; eine versäumte Chance also - selbst wenn im Spiel der Realisation einer Unendlichkeit von Möglichkeiten irgendwann und irgendwo einmal das Versäumte nachgeholt wird...

In besonderer Weise verwirklicht sich im 'Ganzen Menschen' das Göttliche. Die indischen Sadhus erahnen dies, wenn sie sich mit der Formel grüßen: "Om namo narayanáya!" - "Ehre sei dem Menschen, in dem das Göttliche seinen Weg genommen hat!"(28) Die Rede vom Gottmenschen, das Wort vom Theanthropos, erhält somit einen gänzlich anderen Klang als im christlichen Diskurs, und wird vielleicht eines Tages in seiner Höhe und seiner Tiefe noch viel voller tönen als heute...!


Anhang:

Abb.: Der gekreuzigte Christus, Isenheimer Altar, Mathias Grünewald

 

Im Folgenden ein sumerischer Keilschrifttext, der die rührende Menschlichkeit jener Religion zeigt, gegen die der patriarchalisch-vergeistigte Jahwe erfolgreich hetzte, also gegen jene vorderorientalischen Götter bzw. Göttinen mit ihren Gemahlen, die das erwählte Volk nicht neben ihm haben sollte (in der Bibel v.a. unter dem Namen Ashera, Astoreth [Pl.: Astaroth] und Baal) und gegen deren Verehrer besagtes Volk, geladen mit genozidärem Hass zu Felde zog (in eifriger Erfüllung der "Bann-", d.h. Opfer-Gebote seines Herrn, von jenem stets aufs Strengste "bestraft", wo die Grausamkeit durch einen Hauch Menschlichkeit gemildert wird, oder die bösen Götzen gar im eigenen Volk Fuß fassen, sei dies im Kult oder in Form von Heirat mit den gefährlichen Weibern der Götzendiener...):

 

Die Freude Sumers (Das Ritual der Heiligen Hochzeit)

 

Die Leute von Sumer versammeln sich im Palast,

Im Haus, welches das Land regiert.

Der König errichtet einen Thron für die Königin des Palastes.

Er sitzt neben ihr auf dem Thron.

 

In der Absicht, für das Leben aller Ländereien Sorge zu tragen,

Wird der genaue erste Tag des Monats haarscharf beobachtet,

Und am Tag, an dem der Mond verschwindet,

Am Tag, an dem der Mond schläft,

Werden die ME vollkommen ausgeführt(8),

So dass der Neujahrstag, der Tag der Riten,

Angemessen bestimmt,

Und ein Schlafplatz für Inanna errichtet werden kann.

 

Die Leute reinigen die Binsen mit süß-duftendem Zedernöl,

Sie legen die Binsen für das Bett zurecht.

Sie bereiten ein Brautlaken über das Bett.

Ein Brautlaken, das dem Herzen Freude bringt,

Ein Brautlaken, das die Lenden süß macht,

Ein Brautlaken für Inanna und Dumuzi(9).

 

Die Königin badet ihre heiligen Lenden,

Inanna badet für Dumuzis heilige Lenden,

Sie wäscht sich mit Seife.

Sie besprengt den Boden mit süß-duftendem Zedernöl.

 

Erhobenen Hauptes nähert sich der König den heiligen Lenden,

Erhobenen Hauptes nähert sich Dumuzi Inannas heiligen Lenden.

Er legt sich neben sie auf das Bett.

Zärtlich liebkost er sie und murmelt Worte der Liebe:

"O mein heiliger Juwel! Meine wundervolle Inanna!"

 

Nachdem er in ihre heilige Vulva eingegangen ist und die Königin aufjauchzen ließ,

Nachdem er in ihre heilige Volva eingegangen ist und Inanna aufjauchzen ließ,

Drückt Inanna ihn an sich und raunt ihm zu:

"O Dumuzi, Dich liebe ich wirklich und wahrhaftig."

 

Der König bittet die Leute, in die große Halle einzutreten(10).

Die Leute bringen Speiseopfer und Schalen.

Sie verbrennen Wacholderharz, vollziehen Reinigungsriten

Und schichten süß-duftendes Räucherwerk auf.

 

Der König umarmt seine geliebte Braut,

Dumuzi umarmt Inanna.

Inanna, auf dem königlichen Thronsitz, leuchtet wie das Tageslicht.

Der König, wie die Sonne, erstrahlt an ihrer Seite.

Überfluss, Üppigkeit und Fülle breitet er vor ihr aus.

Er versammelt die Leute von Sumer.

 

Die Musiker spielen der Königin zu Ehren:

Sie spielen das laute Instrument, das selbst den südlichen Sturm überdröhnt,

Sie spielen das süße algar-Instrument, die Zierde des Palastes,

Sie spielen das Saiteninstrument, das allen Menschen Freude bringt,

Sie spielen Lieder für Inanna, die zu Herzen gehen.

 

Der König streckt seine Hand nach Speise und Trank aus,

Dumuzi streckt seine Hand nach Speise und Trank aus.

Der Palast ist in festlicher Stimmung. Der König ist voll Freude.

Am reinen sauberen Platz feiern sie Inanna mit Gesängen.

Sie ist die Zierde der Versammlung, die Freude Sumers!

 

Die Leute verbringen den Tag im Überfluss.

Voller Freude steht der König vor der Versammlung:

Er grüßt Inanna mit den Lobliedern der Götter und der Versammlung:

"Heilige Priesterin! Die mit Himmel und Erde zusammen erschaffen wurde,

Inanna, Erste Tochter des Mondes, Herrin des Abends!

Deine Loblieder will ich singen."

 

In süßem Staunen schaut meine Herrin vom Himmel herunter.

Die Leute von Sumer treten in Prozessionen vor die heilige Inanna.

Die Herrin, die zum Himmel aufsteigt, Inanna erstrahl in hellem Glanze.

Machtvoll, majestätisch, strahlend und allzeit jugendlich -

Dir Inanna will ich lobsingen!

 

 

(Zit. nach: Zingsem, Vera: Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Göttinnen großer Kulturen im Wandel der Zeiten, Tübingen 19972, S. 78ff)

 

Abb.: Inanna (sumerisch) oder Ishtar (akkadisch-babylonisch) (Black, J., A.a.O.)

 

Abb.: Hieros Gamos oder Heilige Hochzeit (Black, J., A.a.O.)

 

Abb.: Hieros Gamos auf einem Altar und Fruchtbarkeitssymbole (Black, J., A.a.O.)

 

Abb.: Zikkurat. Im Schrein auf der Spitze des Zikkurat wurde vermutlich das Ritual des Hieros Gamos vollzogen (Rienecker, Fritz, Hg.: Lexikon zur Bibel, Wuppertal 1985)

 

Abb.: Rekonstruktion der Caracalla-Thermen (Frigidarium; Heinz, Werner: Römische Thermen - Badewesen und Badeluxus, München 1983, S. 133

 

Abb.: Diocletiansthermen (Frigidarium), heute die Kirche (!) Santa Maria Degli Angeli in Rom (Heinz, A.a.O., S. 115)

 

Abb.: "Die Venus von Kyrene" - Statue der Liebesgötting Aphrodite aus den Trajansthermen von Kyrene (Rom, Museo Nazionale) und "Der Apoxyomenos" - Athlet, der sich nach seinen Übungen reinigt, indem er sich mit Öl einreibt und dieses mit einem Striegel abstreift; römische Kopie eines griechischen Originals von Lysipp (Heinz, A.a.O., S.n 66 u. 84). Man darf sich die Thermen mit ihren großen Lustgärten als riesige, reichhaltige Glyptotheken (Skulpturen-Museen) vorstellen! Wie anders doch jene Körperkultur, die so sich feiert, nackt und (fast völlig) schamlos, als die heute immer noch domierende christliche...

 

Abb.: Eine Collage aus Mosaiken mit Themen aus dem Leben der Thermen: links oben: Frauen bei der Gymnasik (gebadet wurde allerdings ohne "Bikini"; aus einer Villa in Piazza Armerina, Sizilien), darunter: drei Schaustellinnen (Piazza Armerina); in der Mitte und rechts unten: Sklaven mit Erektionen - und wohl auch Ejakulation, oder zuminest: schamlos urinierend (Mitte: Bodenmosaik der Casa di Menandro, Pompeji; rechts: aus den Thermen von Timgad); oben rechts: Athleten (Caracalla-Thermen, Rom)(Quellen: Heinz, A.a.O.: Frontispiz, S. 129, 139, 149; Brödner, Erika: Die römischen Thermen und das antike Badewesen, Darmstadt 19922 , T. 43)

 

Abb.: In Yab-Yum-Stellung Meditierende mit Ritual-Glocke und -Keil (Erläuterung s. Text)(Bild und Erläuterung aus: Essen, Die Götter..., A.a.0., S. 26)

 

Abb.: In Yab-Yum-Stellung tanzend Meditierende mit Opferdolch (Erläuterung s. Text): Vajrakila, ein Yidam (Schutzgottheit), der den "magischen Dolch Phurbu" verkörpert, und seine Partnerin, eine Dakini, bzw. die "inspiratorische Kraft des Bewußtseins" (s. Schumann, A.a.O., S. 87; entspricht dem Begriff der "Shakti"). Hinter ihm hält sie eine Menschenschädelschale voller Opferblut... (Bild und Erläuterung aus: Essen, Die Götter..., A.a.0., S. 170/2)

 

Abb.: "Vision" eines diesseitig und ebenso irdisch wie kosmisch "Erleuchteten" in einem zukünftigen Zeitalter des Internets sowie der kybernetisch funktionierenden ökologischen Netzwerke
(Montage mit einer tibetanischen Buddha-Figur, die die Mudra [Geste] der "Erdberührung" [Bhumisparsha] zeigt [Buddha ruft nach seiner Erleuchtung bei einer Anfechtung durch den Teufel die Erde als Zeugin für die Wahrheit seiner Erleuchtung an - immer noch weitaus mehr Erdbezogenheit, als sie jemals beim Christus am Kreuze zu finden wäre...])


Endnoten:

1. Mayas, Germanen...

2. Tempel kommt von "temenon": das Abgeschnittene. Heilige Orte wird traditionell durch Abgrenzung von der profanen Welt definiert.

3. d.h. spätsteinzeitlich und frühmetallzeitlich

4. vgl. Anhang

5. Wozu auch gehörte, dass mann (!) zahlte für den Beischlaf mit der heiligen Tempelhure.

6. "Dankesfeier"

7. Schumacher, A.a.O., S. 258

8. s. Sailer, Anton; Haus der Kunst, München; Hgg.: Tibet - Kunst des Buddhismus, München 1977, S. 107/8

9. sprich: Prádschnja

10. sanskrit, sprich: Vádschra

11. s. Schumacher, S.: Lexikon..., A.a.O.

12. Schumacher, A.a.O., S. 404

13. Essen, Gerd-Wolfgang, e.a., Hg.: Die Götter des Himalaya: Buddhistische Kunst in Tibet, München 1989, S. 91

14. Schumacher, A.a.O., S. 422

15. d.h. Leitfaden

16. Schumacher, A.a.O., S. 96

17. Schumacher, A.a.O., S. 80

18. Schumacher, A.a.O., S. 289

19. Lama ist ein Ehrentitel für einen "Höherstehenden", einen Lehrer oder Guru im tibetischen Buddhismus.

20. Schumacher, A.a.O., S. 289

21. Bild und nähere Quellenangaben bleibe ich für den Moment schuldig...

22. Schumacher, A.a.O., S. 377

23. Bertholet, Alfred, Hg.: Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 1985

24. die viele Erscheinungsformen und Namen hat: Parvati, Devi, Mahadevi, Kali, Durga, Gauri

25. Schumacher, A.a.O., 377

26. Schumacher, A.a.O., 377

27. Mohammed dürfen wir hier auslassen, der immerhin im Paradiese das lustvolle Beisammensein mit Jungfrauen (!), den Huris, in Aussicht stellte und im Leben die (patriarchalische) Polygamie gestattete, dafür aber den Heiligen Krieg predigte und denen, die der Sinnlichkeit zu sehr verfielen, die grausamsten Abhackungs- und Tötungsstrafen (Scharia) zuteil werden ließ...

28. "Naráyana bedeutet das Göttliche, das im Menschen seinen Weg nimmt..." Im Sanskrit heißt: "wörtl. nara: 'menschlich, den Menschen ... betreffend, ayana: 'Gang, Weg'" (Diener, Michael; Schumacher, Stephan, e.a., Hgg., Lexikon der östlichen Weisheitslehren, Bern 1995, S. 258)

29. Die ME sind "göttliche Kräfte", die hier offensichtlich durch Rituale aktiviert werden (vgl..: Black, Jeremy e.a., Hg., Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia, London 1992, S. 130

30. Dumuzi, der Hirte, ist der Liebhaber der großen Fruchtbarkeitsgöttin Inanna, der sich für sie opfert, an ihrer Stelle in Gefangenschaft geht und somt sie erlöst, als diese in die Gewalt ihrer Schwester, der Unterweltsgöttin Ereshkigal gerät und folglich auf der Erde nichts mehr gedeihen kann. Aber Ischtar befreit ihn auch wieder, so dass er für eine Periode im Jahr ihr beiwohnen kann; und so ist der Zyklus von Werden Vergehen in der Natur gesichert...

31. Die rituelle Vereinigung fand nach Herodot im Schrein auf der Spitze des "Turms zu Babylon", also auf dem pyramidenförmigen Zikkurat des Stadt- und Reichsgottes Marduk statt. Die Vereinigung zwischen göttlichen Paaren wurde wohl teils symbolisch zwischen Götterbildern und teils in "Fleisch und Blut" in einer rituellen Begegnung des göttlichen Königs und einer Priesterin zelebriert (s. Black, Jeremy; A.a.O., S. 157f). Ein anderer Teil des großen Festes findet offensichtlich im Palast des Königs statt.